Heute Alkohol, morgen Tabak

18.05.2022

Die Migros wirbt mit Gras und will Alkohol verkaufen. Das ist sozial verantwortungslos. Dem Migros-Konzern kommen die Werte abhanden. Hintergründe, Gründe und Abgründe.

von Martin Bienlein

«Ich gehe noch Gras kaufen», sagt die Tochter zu ihrem Vater. So wirbt die Migros zu Ostern, und die Abstimmung im Mai /Juni 2022 über den Alkoholverkauf in der Migros steht noch vor der Tür. Damit würde die Migros zur Suchtverkäuferin.

Heute ist der Verzicht auf Alkohol- und Tabakverkauf Teil der sozialen Verantwortung, die die Migros für die Gesundheit in der Schweiz übernimmt. Dieser Gesundheitsschutz ist einer der vier Unternehmenswerte der Migros, neben günstigen Produkten bei guter Qualität in sozialer Verantwortung für Kultur.

Sicherung in den Statuten

Den früheren Genossenschafterinnen und Genossenschafter war beides, Gesundheitsschutz und Verzicht auf den Verkauf von Alkohol und Tabak, so wichtig, dass sie beides 1983 in neun der zehn regionalen Genossenschaftsstatuten aufgenommen haben. Diese können nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden. Im November / Dezember 2021 haben der Migros-Genossenschaftsbund (MGB) und die zehn regionalen Genossenschaften den Weg frei gemacht, um die Statuten zu ändern. Deshalb kommt es vom 16. Mai bis zum 4. Juni 2022 zu einer Urabstimmung.

Hintergrund: Konkurrenz aus dem Internet und von Discountern

Nun ist die Migros unter Druck, der Verkauf vieler Produkte (Wäsche, Elektronik, Kinderspielzeug) verschiebt sich aus den Läden in das Internet. Hinzukommt der Druck der Discounter, allen voran Aldi und Lidl. Beide haben sich mit regionalen Produkten und Schweizer Qualität profiliert.

Folgen: Machtkampf innerhalb der Migros

Diese doppelte Konkurrenz bekommen vor allem die regionalen Genossenschaften in den Migros-Läden zu spüren. Nun wollen sie ihre Produktepallette ausweiten, um den Umsatz zu steigern. Die Manager haben diese in den bisher von der Migros verpönten Suchtmitteln Alkohol und Tabak gefunden, mit wundervollen Margen. Dass dies auf Kosten von Denner einer Tochter des MGB geht, nehmen sie offensichtlich in Kauf.

Gründe für den alkoholfreien Einkauf

Der alkoholfreie Einkauf hat drei gute Gründe: Schutz der Alkoholkranken, Gesundheit als Unternehmenskultur, Jugendschutz.

Alkoholkranke müssen ihr Verhalten ändern, wenn sie von der Droge wegkommen wollen. Dies betrifft vor allem ihr zu Hause, aber eben auch das Einkaufen. Dabei helfen Läden, die keinen Alkohol anbieten. Mark J. Moser brachte folgendes Bild auf Twitter: «Stell dir vor du hättest einen Stalker, der in den meisten Läden auf dich wartet, … ausser in der Migros. So in etwa ist es für Alkoholiker.». Der tägliche Spiessrutenlauf entfällt. Sollen die Alkoholkranken weiterhin geschützt werden, bleibt die Migros alkoholfrei.

Mit dem Verzicht auf Alkohol- und Tabak ist die Migros einen einzigartigen Weg des Gesundheitsschutzes gegangen. Auch wenn Sozialversicherungen heute das materielle Elend auffangen, bleiben die gesundheitlichen und vor allem die sozialen Schäden. Mit dem Verkaufsverzicht zeigt die Migros also immer noch ihr soziales Engagement. Wie beschrieben, ist der Verzicht auf den Verkauf von Alkohol und Tabak ein zentraler Unternehmenswert.

Jugendliche können doppelt von einer alkoholfreien Migros betroffen sein. In der Migros lernen Kinder und Jugendliche, dass Einkauf und Alkohol nicht zusammengehören. Es gibt eine Normalität ohne Alkohol. Später haben sie die freie Entscheidung, Alkohol zu kaufen oder nicht. Ausserdem haben Kinder von Alkoholkranken mindestens in der Migros Freizeit. Hier können sie ungestört mit Ihren Eltern sein. Das betrifft zwischen 70'000 und 100'000 Kinder in der Schweiz.

Abgrund eins: Signal gegen Prävention

Es geht nicht um ein paar Flaschen Bier und Wein in den Regalen. Es geht um das Signal zu einem Wertewandel. Mit dem Verzicht auf Alkohol- und Tabakverkauf zeigt die Migros ihren Kunden und Kundinnen: «Eure Gesundheit ist uns wichtig!». Kein anderer Detailhändler auf der Welt legt so ein Engagement ab. Sie muss dafür gar nichts tun, keine Werbekampagnen fahren, weil alle es wissen und verstehen. Verkauft die Migros Alkohol, und wahrscheinlich bald auch Tabak, ist das Signal erst einmal das Gegenteil: «Eure Gesundheit ist uns nicht wichtig!». Millionenschwere Werbekampagnen werden folgen mit den (leeren) Worten: «Eure Gesundheit ist uns doch wichtig! Kauft Produkt XY.» Es wäre ein verheerendes Signal von einem Unternehmen, das bis dahin Gesundheit durch einen einfachen Verkaufsverzicht hochgehalten hatte. Führt die Migros den Alkoholverkauf ein, dann wirft sie den Unternehmenswert Gesundheit über Bord und zerstört ihn. Der Alkohol- und damit Drogenverkauf würde zur Normalität. Während die Tabakprävention in die entgegengesetzte Richtung läuft und den Tabakkonsum denormalisieren will. Mit ihrem Alkoholverkauf untergräbt die Migros Trends und Anstrengungen zur Prävention.

Abgrund zwei: Profit vor Gesundheit

Das Signal an die Öffentlichkeit, insbesondere an junge Menschen, ist verheerend. Der Alkoholverkauf der Migros raubt ihren sämtlichen Gesundheitsangebote (Lebensmittel, Medikamente und ärztliche Leistungen) die Glaubwürdigkeit. Denn alle wissen es, der Migros geht es nicht um Gesundheit, der Migros geht es um Profit. Weder Delegierte noch kantonales und nationales Management scheinen die Tragweite ihres Entscheides fassen zu können. Ist das der Dieselskandal der Migros?

Stossend am Entscheid der Migros ist, dass das Management keine Kompensation vorgeschlagen hat. Wenn kein offener Verkauf von Alkohol stattfinden würde, zum Beispiel in Schränken nicht sichtbar oder nicht greifbar (siehe Tabakverkauf in Australien), wäre dies eine Ausgleichsmassnahme, die den Wert Gesundheit für die Migros unterstreichen würden. So aber wird nicht nur der Alkoholverzicht aus den Statuten gestrichen, sondern auch der Unternehmenswert Gesundheit.

Abgrund drei: Heute Alkohol, morgen Tabak

Wird nun der Alkoholverzicht gestrichen, fällt der Tabakverzicht ebenfalls. Wenn nicht jetzt, dann später. Es handelt sich um einen Wertewandel der Unternehmung, der den Gesundheitsschutz als Ganzes aufhebt. Nach der Einführung des Alkohols gibt es keinen Grund mehr, keinen Tabak zu verkaufen. «Ich gehe Gras kaufen», ist eine Vorahnung, wo die Reise hingeht. Was heute noch in den Köpfen der Werber und in den Werbespots läuft, ist morgen in den Regalen. Dies umso mehr, dass die Legalisierung des Cannabis näher rückt.

Abgrund vier: Die Sinnentleerung einer Demokratie

Die Migros führt eine inhaltslose Kampagne über die Alkoholabstimmung. Sie wirbt vordergründig dafür, dass alle abstimmen sollen. Die Wirtschaftsdemokratie war in der Tat ein wichtiges Element bei der Gründung und ist es heute noch. Worum die Abstimmung aber geht, nämlich die Grundwerte der Migros, konkret die soziale Verantwortung für die Gesundheit, wird nicht angesprochen. Doch in den Gegenkampagnen des Ex-CEO Herbert Bolligers und des Blauen Kreuzes geht es genau darum: unternehmerische Grundwerte und Gesundheitsschutz.

Die Migros nutzt die Abstimmung, um junge Menschen als Genossenschafterinnen und Genossenschafter zu gewinnen. Die Kampagne mit den Bierflaschen ist auf eine jugendliche Zielgruppe gerichtet. Mit zwei Bierflaschen holt man keine Über-Vierzigjährigen hinter dem Ofen hervor. Junge Menschen befürworten eher den Alkoholverkauf in der Migros.

Abgrund fünf: Zynische Werbekampagne

Die Migros-Werber gehen sogar noch einen Schritt weiter und werben mit zwei Biersorten in Bier für die Abschaffung des Gesundheitswertes. Zynischer geht es nicht mehr, da Alkohol die Volksdroge Nummer Eins ist. Es geht ihnen nicht einmal um die Demokratie, sondern es geht ihnen um das Bier, um den Alkohol. Auch wenn sie es jetzt verspricht, wird die Migros kein alkoholfreies Bier mit dem Namen «Nein», «Non», «No» ins Regal stellen. Ihr geht es also nicht einmal um diese Eigenmarke. Die Bierflaschen sind ein (zynischer) Werbegag.

Die Kampagne der Migros wirbt mit ganzseitigen Inseraten in den Tages- und Sonntagszeitungen, im Internet und natürlich als Logo in der eigenen Migros-Zeitung. Dort kommt zwar eine kritische Stimme zu Wort, aber die Gegner dürfen keine Werbung machen. Die Werbekampagne kostet einiges, wahrscheinlich über eine Million.

Gibt es eine Gegenkampagne?

Es gibt eine Gegenkampagne gegen den Alkoholverkauf in der Migros. Sie besteht einerseits aus der Suchtprävention, allen voran das Blaue Kreuz und Sucht Schweiz (www.migrosohnealkohol.ch, #migrosohnealkohol und #migrosbleibtalkoholfrei), andererseits von ehemaligen Migros-Managern (Gruppe für die M-Werte). Letzteren sind die Grundwerte der Migros wichtig. Den Personen und Organisationen der Suchtprävention ist der Schutz vor Alkohol und Tabak am wichtigsten, und damit auch der Jugendschutz. Allein, dass die Migros als grösste Detailhändlerin auf Alkohol und Tabak verzichtet, ist ein Wert an sich. Es zeigt nämlich, dass weder Alkohol noch Tabak für den wirtschaftlichen Unternehmenserfolg wichtig sind. Es ist ein Kampf David gegen Goliath.

Wer stimmt wie ab?

Tamedia und 20 Minuten haben eine Umfrage zur Abstimmung durchführen lassen. Je älter die Person ist, desto eher stimmt sie Nein. Die Deutschschweizer sagen eher Ja als die Romands, am wenigsten stimmen die Tessiner gegen die Einführung. Alles in allem zeigt sich aber ein Nein. Dies wird noch verstärkt, in dem eher die älteren Menschen abstimmen gehen und eher jene, die Nein stimmen. Die potenziellen Ja-Stimmenden verlieren nichts, wenn sie nicht abstimmen gehen. Das Migros-Management mag sehr wohl die Kunden und Konsumenten befragt haben, nicht aber ebenso gründlich die Genossenschaftsmitglieder, also die eigene Basis. Der Absturz der Einführung ist voraussehbar.

Als Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz liegt es in unserer Hand, Migros Genossenschafterinnen und Genossenschafter zu werden und den Alkoholverkauf in der Migros abzulehnen. Damit die Migros alkohol-, tabak-, und cannabisfrei bleibt. «Ich gehe noch Gras, Alkohol und Tabak kaufen» sagt die Tochter zum Vater. «Aber nicht in der Migros.»

Martin Bienlein ist seit 20 Jahren im Gesundheitswesen tätig. Zur Zeit ist er selbständig und arbeitet parallel beim Blauen Kreuz Schweiz, zuvor war er zwei Jahre in der Tabakprävention tätig, davor 17 Jahre für einen Spitzenverband der Leistungserbringer.

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