Der Mythos der Schadensminimierung

Die Tabakindustrie täuscht die Öffentlichkeit seit langem, indem sie behauptet, einige ihrer Produkte seien weniger schädlich als andere. Jahrelang hat die Industrie Zigaretten mit den Begriffen «leicht» oder «mild» vermarktet und damit ein geringeres Risiko suggeriert, aber viele Länder haben die Verwendung dieser irreführenden Begriffe inzwischen verboten. Bei der Vermarktung ihrer Tabakprodukte zum Erhitzen, oft «Tabakerhitzer» genannt, verhält es sich nicht anders, da die Industrie die Wissenschaft manipuliert und die Öffentlichkeit falsch informiert.

von Malgorzata Posoch, Kris Schürch und Luciano Ruggia

Um das irreführende Narrativ der Schadensminimierung zu verstehen, dass von der Tabakindustrie verbreitet wird, müssen wir zunächst untersuchen, wie das Konzept der Schadensbegrenzung selbst entstanden ist.

Woher kommt der Begriff «Schadensminimierung»?

Das Konzept der Schadensminimierung nahm in den 1980er Jahren als Reaktion auf die HIV/AIDS-Krise Gestalt an. Die Autorin Maia Szalavitz des Buches «Undoing Drugs» bezeichnete Liverpool (England) als die Heimat der Schadensbegrenzung. Liverpool leistete Pionierarbeit bei der Bewältigung der Probleme, die durch das Auftreten von HIV und die Ansteckungsgefahr durch die Verwendung von kontaminiertem Injektionsmaterial entstanden. Durch die Bereitstellung von sauberem Injektionsmaterial, aufsuchende Massnahmen und die Verschreibung von Methadon (ein Medikament zur Behandlung von Opioidkonsumstörungen) wurden die Risiken der Injektion unbedingt verringert.

Die Schweiz zog bald nach, wobei die Ursprünge ihrer Schadensminderungspolitik in die späten 1980er und frühen 1990er Jahre zurückreichen, als das Land von einer grossen Heroin-Epidemie betroffen war.

Zürich war aufgrund der sichtbaren Präsenz von Drogenkonsumenten im Stadtzentrum auch als «Stadt der Zombies» bekannt. Die HIV-Infektionsraten und die Zahl der Todesfälle durch Überdosierung stiegen sprunghaft an.

Junkie in Lettland, Ullstein Bild

Abbildung: Ein Drogenabhängiger am Zürcher Letten, 1994 (©Ullstein Bild)

Erfolge der Schweizer Schadensminimierung bei HIV

Mit ihrem Vier-Säulen-Modell – Prävention, Therapie, Schadensminimierung und Repression – gelang es der Schweiz, die Heroinkrise umfassend und menschenwürdig zu bewältigen. Die damit verbundenen direkten und indirekten Schäden sanken landesweit; die Zahl der HIV-Neuinfektionen ging um 88% zurück.

Labormeldungen HIV-positiv

Abbildung: Labormeldungen HIV-positiv, nach Geschlecht und Testjahr, 1985-2023. Quelle: aids.ch

Weitere globale Erfolgsgeschichten wirksamer Strategien zur Schadensminderung im Bereich der öffentlichen Gesundheit sind:

Harm Reduction International definiert Schadensminimierung als komplexe Intervention, die eine umfassende Umsetzung von Politiken, Programmen und Praktiken erfordert. Dieses auf Menschenrechten basierende Konzept setzt auf positive Veränderung und arbeitet mit Betroffenen ohne Urteil, Zwang oder Diskriminierung.

Die Tabakindustrie dagegen versteht unter «Schadensminimierung» lediglich den Austausch eines schädlichen Produkts durch ein anderes - ebenfalls schädliches. Sie hat das Konzept vereinnahmt, um ihre Tabakerhitzer (HTP, von Heated Tobacco Products) als vermeintlich „sicherere“ Produkte zu bewerben und so neue Kund*innen zu gewinnen.

Wie die Tabakindustrie den Begriff «Schadensminimierung» für ihre Tabakerhitzer vereinnahmt

Tabakunternehmen sind sich bewusst, dass sie in den letzten Jahrzehnten in der Öffentlichkeit an Glaubwürdigkeit verloren haben.

Um ihr Image aufzupolieren, benutzt die Industrie den Begriff Schadensminimierung, betreibt jedoch gleichzeitig Wissenschafts- und Meinungskauf. HTP - erstmals 2015 auf dem Schweizer Markt - sind dabei ihr neuestes Flaggschiff.

HTP sind ihrer neuesten Vorzeigeprodukte und kamen 2015 erstmals auf den Schweizer Markt. Seitdem hat die Tabakindustrie erhebliche Mittel investiert, um die Illusion zu verkaufen, dass ihre HTP weniger schädlich sind als herkömmliche Zigaretten.