Marketing der Tabakindustrie
Frauen und Jugendliche zuerst. Marketing der Tabakindustrie und des Tabakhandels – Werbung, Sponsoring und Verkaufsförderung in der Schweiz (Band 141)
Martin Bienlein
Bern 2021, 538 Seiten, mit viel Bildmaterial
ISBN 978-3-85707-141-6
Die Tabakindustrie leugnet, dass sie Kinder und Jugendliche als Zielpublikum ihres Marketings anvisiert. Ihre Marketinginstrumente und internen Dokumente sprechen eine andere Sprache. Auch die zweite Hauptzielgruppe des Marketings, Frauen, vor allem junge Frauen, sind gut dokumentiert. Das Marketing der Tabakindustrie und des Tabakhandels ist breit, auch in der Schweiz. Die Tabakindustrie spielt seit hundert Jahren auf der ganzen Klaviatur und nach den neusten Melodien des Marketings.
Virtuelles Marketing
Die vier grossen Tabakfirmen (Big Tobacco), also Philip Morris, Japan Tobacco International, British American Tobacco und Imperial Brands (vormals Imperial Tobacco), haben in den 2010er Jahren Influencerinnen und Influencer benutzt, um ihr Publikum, Kinder und Jugendliche, zu erreichen. Die Tabakindustrie bedient sich vor allem der Frauen, junger Frauen; in der Schweiz dem Modemodel Tamy Glauser. Die Sozialen Medien sind ein Kommunikationsmittel der Jugendlichen. Der Gebrauch der Sozialen Medien bedeutet also, Jugendliche als
Zielpublikum anzuvisieren. Tabakfirmen, vor allem Big Tobacco, aber auch die Schweizer Zigarrenhersteller Oetinger Davidoff und Villiger Söhne nutzen die elektronischen Marketingkanäle genauso wie die klassischen, namentlich die Presse. Ganz oben steht Instagram. Sie nutzen aber auch Facebook und Twitter. YouTube und TikTok sind voll von
Videos rund ums Rauchen und den Konsum von E-Zigaretten. Die Tabakfirmen setzen Hashtags, um an immer mehr potentielle Kundinnen und Kunden zu
gelangen. Sie präsentieren sich auf ihren firmeneigenen Homepages für Investoren und potentielle Mitarbeitende als sozialverantwortlich und umweltfreundlich. Dagegen nutzen Schweizer Tabakfabrikanten, Supermärkte, Spezialläden und neuerdings auch eine Kioskkette ihre Internetseiten zum Tabakverkauf.
Productplacement
Big Tobacco hat schon immer Schauspieler und Produktionen bezahlt, um ihre Zigaretten und Zigarren zu promoten. Product- und Brandplacement findet in Videospielen, Musikvideos, Filmen und auf Streamingdienste wie Netflix statt. Tabakfirmen vermitteln damit, dass Rauchen und vermehrt auch E-Zigaretten-Konsum normal und sozial akzeptiert sind.
Verkaufsorte
Zu den klassischen Verkaufsorten, nämlich den Supermärkten, den Kiosken und den Zigarettenautomaten, kommen Singlestores und Flagshipstores sowie Internetseiten hinzu. Die Verkaufsorte bleiben entscheidend, weil hier die eigentliche Kaufentscheidung getroffen wird. Entsprechend voll sind sie mit Promotionen, zum Beispiel mit Wettbewerben.
Eventmarketing
Das Eventmarketing besteht in der Schweiz vor allem aus den Openair Musikfestivals. Erst langsam lösen sich die Festivals von der Finanzierung durch Big Tobacco und Alkohol-Firmen, zum Beispiel das Gurten-Festival in Bern, Vernier sur Rock in Genf, Baleinev Festival in Yverdon-les-Bains, Festival de la Cité in Lausanne, La-Plage-de-Six-Pompes in La Chaux-de-Fonds. Tabakfirmen organisieren und zahlen (Privat-)Partys. Ein anderer Jugendevent war der HackZurich (2020), den Philip Morris mitsponsorte.
Sponsoring
Gross ist die Tabakindustrie im Sponsoring. An erster Stelle steht das Sportsponsoring von Formel-1, Tennis, Motorrad- oder Lastwagenrennen. Die Schweizer Zigarrenfabrikanten Oetinger, Davidoff und Villiger Söhne mischen mit. Das Tabaksponsoring in Kultur und Unterhaltung ist enorm breit. Ein Beispiel ist das Jazzfestival Montreux. Das Geld für Kunst, Kunstfestivals, Kunstmessen, Kunstmuseen, Kunstausstellungen und Künstler fehlt nicht. Da Tabak in der Öffentlichkeit auf dem Rückzug ist, sponsort die Tabakindustrie rauchfreundliche Zonen, zum Beispiel eine Raucherlounge im Flughafen Zürich.
Social Marketing, namentlich Corporate Social Responsibility CSR
Die Tabakindustrie betreibt seit siebzig Jahren Social Marketing (Public Relations), inzwischen anhand der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Dabei betreibt sie in ihrer Corporate Social Responsability Whitewashing, insbesondere um von ihrem unethischen Verhalten gegenüber Tabakbauern in
Ländern mit niedrigem Einkommen abzulenken. Sie betreibt Greenwashing, um ihre katastrophale Umweltbilanz durch den ganzen Produktions- und Konsumprozesszu vertuschen, und Healthwashing, um von ihren gesundheitsschädlichen, krankmachenden und tödlichen Produkten abzulenken. Sie bedient sich des Crisiswashing bei Naturkatastrophen und im Jahr 2020 für die Coronavirus-Pandemie, um ihr Gesamtimage aufzupolieren.
Klassische Inserate und Markenstretching
Neuer sind Tabakwerbung und -inserate im Internet (IQOS, EPOK). Sie ergänzen die klassischen Annoncen in Zeitungen, Zeitschriften, Rauchermagazinen,
Handelszeitschriften, Beilagen (in Papier oder elektronisch) sowie die Plakatwerbung. Nicht neu ist das Marketing der Dinge, sei es als Aschenbecher oder als Gadget, sei es auf Kleidern oder als Kaugummizigarette für Kinder. Markenstretching hat seine grosse Zeit hinter sich. Nun wollen die Tabakfirmen lieber unerkannt bleiben (Davidoff für Parfum, Camel und Marlboro für Kleider).
Vertriebspolitik
Ausser den sichtbaren Promotionen an den Verkaufsorten und ausser den Ladenkonzepten bleibt die Vertriebspolitik undurchsichtig. Marketingeinschränkungen führen dazu, dass die Vertriebspolitik an Bedeutung zunimmt, wenn die Verkäuferinnen und Verkäufer im Detailhandel die Absätze sichern und steigern müssen.
Produktepolitik
Die Produktepolitik ist zusammen mit der Werbung die Stütze des Zigarettenmarketings. Bedeutend sind die Marken, ihr Image, die Verpackung, Farben und neuerdings mit den elektrischen Geräten zusätzlich das Design. Die Produktepolitik war und ist immer noch international gesteuert. Ein anderes
Produkteinstrument sind Spezialausgaben. Alle Tabakfirmen nutzen sie. Ein weiteres Produktelement sind Aromen. Sie nehmen an Bedeutung zu und stehen bei den E-Zigaretten, Tabakerhitzungsprodukten und oralen Tabak- und Nikotinprodukten sogar an erster Stelle. Die erste grosse Produkteänderung der Zigarette war die Einführung des Filters als Marketing- und nicht als Gesundheitsinstrument. Das gilt auch für Slim-, Light- und Ultra-Light-Zigaretten.
Preispolitik
Jede Zigaretten- und Zigarrenmarke hat ihren Platz in der Preispolitik. Die Preise und Marken sind auf Zielgruppen abgestimmt. Billigmarken sind für Jugendliche.
Marketing-Mix – IQOS ein Praxisbeispiel
Für das Tabakerhitzungsprodukt IQOS fährt Philip Morris das volle Marketingprogramm von Kommunikations-, Produkte-, Verteilungs- und Preispolitik. IQOS ist als Luxusmarke konzipiert und wie ein elektronisches Gerät designed. Models sind hauptsächlich jugendliche Frauen. Instagram spielt eine zentrale Rolle. Events nutzt die Tabakfirma intensiv.
Dauerbrenner der Marketingthemen und Images
Die Themen und Botschaften sind seit über einem halben Jahrhundert die gleichen. Gesundheit stand und steht vorne, nun unter dem Motto der Schadensminderung. Innovation und Elektronik sind heute ihre Hilfsmittel. Luxus spielt vermehrt eine Rolle. Und das Schmuddelige der Zigarette, unter anderem der Gestank, geht bereits mit den E-Zigaretten verloren und sicher mit den Tabakerhitzungsprodukten. Gesundheit, Schlankheit und Luxus richten sich vor allem an Mädchen und Frauen. Die übrigen Botschaften der Zigarette bewirtschaften die Tabakfirmen weiter: die Loslösung von Zuhause, das Regelbrechen und die Suche nach der neuen, erwachsenen Identität. Diese Themen sind die Themen der Adoleszenz. Nur die Marken sichern eine Differenzierung bei einem sonst extrem homogenen Massenprodukt.
Eine Vielzahl von Zielgruppen
Frauen und Jugendliche sind also die Hauptzielgruppe der Tabakindustrie. Die Tabakfirmen interessieren sich zudem für die LGBT-Community ( z.B. Camel), Niedrig-Ausgebildete, Raucherinnen und Raucher, US-amerikanische Minderheiten, früher einmal Ärzte, Detailhändler, Aktionäre, potentielle Mitarbeitende, Medien, Journalistinnen und Journalisten (Japan Tobacco International in der Schweiz), Nichtraucherinnen und Nichtraucher, sowie Politikerinnen und Politiker. Jugendliche erreicht die Tabakindustrie über die Sozialen Medien sowie Influencerinnen und Influencer. Nichts verkörpert die Zielgruppe der Jugendlichen so gut wie die Marketingkampagne von Philip Morris für Marlboro «Don’t be a may». Und nichts jene der Frauen wie die Slim- Frauenzigaretten in pinken schlanken Verpackungen (Glamour). Diese Zielgruppen werden von den Industriedokumenten bestätigt, die die Tabakindustrie auf Grund des Master Settlement Agreements von 1998 zwischen US-Bundesstaaten und den US-amerikanischen Tabakfirmen publizieren musste.
Marktforschung und Marketingausgaben
Die Tabakindustrie analysiert Raucherinnen und Raucher sehr genau, auch die potentiellen. Und das sind vor allem Kinder und Jugendliche. Die Marketingausgaben verlagern sich aus dem klassischen Bereich von Presse, Plakat und Kino in den virtuellen Raum. Die Werbeeinnahmen für Tabak- und
Nikotinprodukte nehmen im Vergleich zu anderen Produkten über die Jahre ständig ab. Vielleicht sichert sich die Tabakindustrie deshalb das Wohlwollen der
Medien, indem sie ad hoc Werbeaufträge während der parlamentarischen Arbeit vergibt und sie langfristig Journalistenanlässen sponsort, wie zum Beispiel Japan Tobacco International in der Schweiz.
Nationale und internationale Gesetzgebung sowie ein Gesetzesvorschlag
Die Schweizer Gesetzgebung ist das internationale Schlusslicht im Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabak und Nikotin. Gerade das Tabakmarketing unterliegt einer laschen Gesetzgebung. Die Tabakindustrie hält sich nicht einmal an die selbst gesetzten Standards oder macht diese so löchrig wie einen Appenzeller Käse, sodass doch sämtliches Marketing möglich bleibt. Weil Teileinschränkungen zu wenig Schutzwirkung entfalten, kann nur ein umfassendes Marketingverbot von Tabak- und Nikotinprodukten bei Herstellern, Händlern und Verkäufern sicherstellen, Kinder und Jugendliche vor dem Tabak und Nikotinmarketing zu schützen.
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